Mittwoch, 20. Juli 2016

Buchreview "Passenger" R. Malfi

Ronald Malfi. Ein Mann erwacht im Baltimore City Bus ohne jegliche Erinnerung daran, wer er ist, wohin er unterwegs ist, oder was mit ihm geschehen ist. Sein Kopf ist kahl geschoren, seine Kleidung scheint neu und auf seiner Handfläche ist eine Adresse notiert. St. Paul Street 1400, Apartement 3b.
Er versucht das Geheimnis seiner Vergangenheit aufzudecken, doch ihn beschleicht die ungute Ahnung, dass diese nicht grundlos verborgen wurde.


Der Mann im Bus ist verwundert. Er weiß nicht, wer er ist. Kennt keinen Namen, keine Herkunft, keinen Beruf. Nichts, das seine Person betrifft. Ansonsten ist er aber fähig, früher Erlerntes anzuwenden, kann Klavier spielen, weiß mit Geld umzugehen, wie man trinkt, isst und spricht. Nun beginnt er mit einer Suche nach sich selbst. Dabei trifft er auf die unterschiedlichsten Figuren in der Stadt, lernt Leute kennen, gerät in Auseinandersetzungen und auch in Diskussionen. Auf seiner Handfläche ist eine Adresse notiert. Doch hilft sie ihm wirklich, seine Vergangenheit und sein früheres Leben aufzudecken? Macht es überhaupt Sinn, das zu tun? So irrt er durch Baltimore und seine dunklen Ecken mit einigen zwielichtigen Gestalten. 

"Passenger" ist ein Roman, der mitreißt, der den Leser derart in seinen Bann zieht, dass er mindestens so neugierig auf die Lösung ist, wie der Protagonist selbst. Nach und nach kommen durch die Bekanntschaften, die der Mann macht, Vermutungen auf, was gewesen sein könnte, woher er vielleicht kommen würde. Doch das sind nur Häppchen, die vielleicht eine Lösung bieten - oder eben auch nicht. Auffällig ist auch, dass Moe, wie der Mann mittlerweile genannt wird, sich eher in Randbezirken der Gesellschaft aufhält. Dunkle Ecken, halbkriminelle Elemente, Huren, vom Leben ausgebrannte Existenzen - das bestimmt seine Umgebung. Vom seinem Aussehen her - kahlgeschorener Kopf, abheilende Verletzungen, verhärmtes Gesicht, Blutergüsse am Körper und völlig abgemagert - passt er in diese Umgebung. "Passenger" ist absolut kein Horror im üblichen Sinne, wie ihn Autoren wie Brian Keene oder gar Tim Curran zu liefern gewohnt sind. Das Buch von Ronald Malfi ist vielmehr ein spannungsgeladenes Drama, das seinen Reiz aus der Reise und der Suche eines Mannes nach seiner Vergangenheit bezieht und erst ganz zum Ende eine Lösung anbietet, die wie das gesamte Buch für die Anbieter der Massenware schlichtweg zu untauglich ist, keinen reißenden Absatz garantieren könnte. Doch für den geneigten Leser ist "Passenger" zwar ohne Blut und Gedärm, Action und Gewalt, dafür aber ein ausgefeiltes Kunstwerk der Sprache - und genau die ist es, die daraus auch einen wahren Page Turner macht. Man kann einfach nicht mehr aufhören, Moe zu folgen, seine kleinen und großen Dramen mitzuerleben und sich zu fragen, ob er dann am Ende endlich herausfindet wer er ist und warum er mit seiner Teilamnesie auf den düsteren Straßen Baltimores unterwegs ist. Keine strahlenden Helden, keine glänzenden Fassaden und piekfein eingerichteten Wohnungen prägen das Umfeld, hier regiert Armut und Angst, Dreck und Überlebenskampf, Kleinkrimninalität und Perspektivlosigkeit. Und über allem steht die Frage: Lohnt es sich wirklich, alles zu wissen? Macht ein Neuanfang in dieser Welt Sinn? "Passenger" ist wahrlich nicht meine übliche Kost. Umso bemerkenswerter also, dass es mich derart mitgerissen hat. Da ich mich nicht zu dem Kraken auf eine niedere Stufe begeben will, vergebe ich keine Sterne, aber dafür 9/10 Punkte.

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