Mittwoch, 17. Oktober 2018

Buchreview "Bruder" A.Ahlborn

Ania Ahlborn. Das alte Bauernhaus der Familie Morrow steht fernab von jeder Straße. Und das aus guten Grund – denn wenn in der Umgebung eine Frau verschwindet, klopft niemand an ihre Tür und stellt neugierige Fragen. Und niemand schaut nach, was sie schon wieder im Hinterhof begraben haben. Aber der 19-jährige Michael ist nicht wie der Rest seiner Familie. Er wünscht sich ein Leben weit fort von all dem Grauen. Als Michael in der nahe gelegenen Stadt die hübsche Alice trifft, vergisst er für einen Moment fast das Ungeheuer, zu dem er selbst geworden ist. Doch sein Bruder Rebel erinnert Michael daran, wohin er gehört.

Inhaltsangabe gelesen und schon hatte ich das Buch eigentlich vorverurteilt - und mich irgendwie auch. Wieder so ein Hinterwäldlerwerk, in dem Sex und Gewalt von missgebildeten und/oder ungebildeten Bewohnern weit abseits jeglicher Zivilisation stehender Gebäude sich arme Geschöpfe greifen, die ihnen zufällig in die schmutzigen Finger fielen und vergewaltigen, foltern und töten (nicht unbedingt in dieser Reihenfolge), was das Zeug hält. Wirft kein gutes Licht auf mich, dass ich mir den Stoff regelmäßig kaufe.

Aber ich hab tatsächlich eine Ausrede: Nur wenn man sich ohne Scheu durch allen möglichen "Schund" arbeitet, findet man auch gut versteckte Perlen. "Bruder" ist so eine Perle. Es sei nicht verschwiegen, dass auch der Beginn des Buches noch auf die üblichen Mechanismen des Genres hindeutet, aber mit jeder Seite, in die man seine Zeit investiert, öffnet sich dem Leser immer mehr ein Fenster und den Blick auf eine Familie, die völlig kaputt ist, ihre blutigen Geheimnisse hat und einerseits das von mir genannte Vorurteil doch bestätigen, aber andererseits ein Familiendrama entwickeln, das es in sich hat. Die wesentlichsten Bestandteile der Familie und der Geschichte sind die Brüder Michael und Ray, der Rebel oder Reb genannt werden will und auch derartige Attitüden hat. Er ist das Gegenstück zum eher sanftmütigen Michael. Da ist noch eine Schwester namens Misty Dawn (verkorkst), die Eltern Wade und Claudine (Vorstellbar durch die Generationen über währende schlechte Situation in ihrer abgelegenen und chancenlos abgehängten Stadt abgestumpft und brutal geworden.), die durchaus etliche der Klischees erfüllen, die man seit Dekaden in unterschiedlichen Filmen zu von der Wirtschaft und somit der Welt verlassenen Gegenden und Menschen einer Region erwartet. Zudem gibt es noch einer weitere Tochter, Lauralynn, die bei den Großeltern und eine Ecke weg von diesem Hort der Vergessenen lebt. In diesem Umfeld, wo die Arbeitslosigkeit Hochkonjunktur hat, müssen sich die Menschen etwas einfallen lassen, um über den Tag zu kommen. Abseits der Menschen, die sie auflesen, um sie dann zu martern und später zu töten, kämpfen sie ums tägliche Brot. Rebel ist eigentlich genau der Typ, der zu oft James Dean in einem Film gesehen hat und ihm mit seinem Namenswunsch nacheifert. Er ist auffällig und spielt auch seine Kräfte und die Macht über Michael aus, indem er ihn, den Jüngeren, zum Klauen zwingt. Die Eltern kümmert es kaum, obwohl Wade mit Fortschreiten der Handlung tatsächlich so etwas wie väterliche Gefühle zumindest ansatzweise zeigt. Die größeren Übel sind die Mutter und Rebel. Gerade der ist frei von jeglicher Empathie, von Mitgefühl oder sonstigen menschlichen Regungen die treibende Kraft hinter Michaels unglücklichem Dasein. Und so entwickelt sich ein Psychoduell unter den Jungs, das den Rest ihrer Umgebung zwar berührt, aber im Endeffekt ihr eigener Kampf ist, der heftiger wird, als Michael ein Mädchen kennenlernt. 

"Bruder" ist eine deprimierende Geschichte, die eine Familie und deren Hang zur Gewalt seziert, die treibende Kraft hinter all dem Schrecken entlarvt und die Ohnmacht der jeweiligen Opfer verdeutlicht. Und damit die Leserschaft vielleicht überrascht. Ein Buch, dessen Intensität sich erst mit der Zeit entfaltet und den Leser dann packt und ihn nicht loslässt, bis es zu Ende ist - und vielleicht auch danach noch nicht. Kein sinnfreier Schlachthappen, sondern ein Psychothriller ersten Ranges und wer - wie ich - zuerst einen der bekannten Sex- und Blut-Romane erwartet hat, die eher in der Sparte "Festa Extrem" zu finden sind, der sollte sich möglicherweise dennoch auf die Geschichte eines Amerika, wie es sich selbst nicht gerne sieht, einlassen. Hier gibt es kein Waltonsches 'Gute Nacht, John Boy!', hier heißt es eher 'Halt endlich die Fresse, sonst prügel ich dich in den Schlaf'. Aber auf Thrillerebene mit blutigen Tupfern, okay eher schon größere Placken, und einem äußerst tragischen Ende ist dieses psychologische Familiendiagramm ziemlich hochwertige Kunst. Bei FESTA Horror & Thriller gut aufgehoben. 8,5/10.

Keine Kommentare: